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Auswanderer aus Lippe und Westfalen

Geschichte

Westfalen als Auswanderungsland zwischen 1200 und 1900

von Erhard Treude 2017

Dass Westfalen ein Auswanderungsland war, ist leicht zu belegen; den genauen Umfang der Auswanderung d. h. der dauerhaften Abwanderung ins europäische Ausland inkl. Österreich und nach Übersee zu bestimmen, ist angesichts der erheblichen Lücken in der Aktenüberlieferung jedoch nicht möglich. Die vorliegenden Ausführungen sollten daher nur als Versuch angesehen werden, alle bis 1900 für mehr als 1200 Bauernschaften, Landgemeinden, Kirchspiele und Ortsteile zugänglichen Auswanderer-Namenslisten auf der Basis von 219 der insgesamt 231 im LWL-Verbandsgebiet liegenden Städte und Gemeinden nach zahlenmäßiger Stärke sowie Herkunfts und Zielgebieten auszuwerten und damit zumindest die wichtigsten Trends sichtbar zu machen. Für das 20. Jh. sind umfassende Quellen kaum mehr vorhanden bzw. aus datenschutzrechtlichen Gründen nicht zugänglich.

Die bedeutendsten Zielgebiete :

Livland und der Deutschordensstaat

Bereits um 1180 erfolgten als Beginn der Kolonisation im Baltikum die sog. Aufsegelung der Düna durch vermutlich auch westfälische Kaufleute und 1201 die Gründung der Stadt Riga; parallel dazu entstand 1202 im Zuge der „Heidenmission“ zur Ausbreitung des Christentums und zum Schutz des Landes der geistliche Schwertbrüderorden, der Jahrhunderte lang eine Art Versorgungseinrichtung für nachgeborene Söhne westfälischer Landadelsgeschlechter bildete. Die selbst an den Zölibat gebundenen Deutsch-Ordensritter zogen Verwandte und Freunde nach, die als ritterliche Vasallenländliche Güter im neuen Deutschordensstaat anlegten, während gleichzeitig in den Städten, insbesondere in Riga, Reval und Dorpat, westfälische Kaufleute und Handwerker durch Zahl und Einfluss das Geschehen bestimmten. Auch wenn die Zahl der nach Alt-Livland (heute der größte Teil der Länder Lettland und Estland) und auch dem gesamten Deutschordensstaat ausgewanderten Westfalen nicht annäherungsweise zu bestimmen ist: Die Bezeichnung „überseeisches Westfalen“ für das Livland hatte in jedem Fall ihre Berechtigung.

www.wikipedia.org / Livland

www.wikipedia.org / Deutschordensstaat

Niederlande

Ab dem 17. Jh. waren die Niederlande für das nördliche Münsterland, das Tecklenburger Land und auch Lippe aufgrund ihrer boomenden Wirtschaft und des entsprechenden Arbeitsplatzangebots das Haupt Auswanderungsziel in Europa. Auch viele Saisonarbeiter, Hollandgänger (d. h. Torfstecher, Kanalarbeiter, Grasmäher und Ziegler) und Wanderhändler kehrten nicht nach Westfalen zurück, sondern zogen Verwandte und Freunde nach. Die Gesamtzahl der Niederlande-Auswanderer dürfte damit beträchtlich höher liegen als die für den Zeitraum 1700 bis 1900 namentlich ermittelten 2410 Personen.

www.wikipedia.org / Hollandgänger

Südafrika und Namibia

Ein gewaltiger, im Lande selbst nicht zu deckender Arbeitskräftebedarf entstand zusätzlich ab 1602 mit der Gründung der Vereinigten Ostindischen Kompanie (VOC) und ab 1652 mit der Anlage einer Versorgungsstation für den Ostasienhandel am Kap der Guten Hoffnung: 94 Westfalen konnten als Soldaten im Dienst der VOC in Ostasien ermittelt werden, 125 sind für die Kap-Kolonie namentlich bekannt; nach Ab lauf ihrer Dienstzeit konnten sie als Freibürger im Landbleiben. Des Weiteren beteiligten sich 1848 weitere 43 Westfalen aus Westerkappeln und Lienen nach der britischen Eroberung der Kap-Kolonie in der von Buren 1841 eingerichteten unabhängigen Republik Natal an der Gründung der Siedlung Neu-Deutschland nahe Durban.

www.wikipedia.org / Kapkolonie

Nord-Amerika

Bereits im 17. Jh. traten erste Westfalen in Nordamerika auf: 18 Personen werden für die 1623 geschaffene Kolonie Neu-Niederlande mit dem drei Jahre später gegründeten Neu-Amsterdam (heute New York) genannt. Die erste Gruppenauswanderung ist für 1714 belegt, als 42 Siegerländer Berg- und Hüttenleute aus dem Raum Müsen-Trapbach (Hilchenbach und Siegen) nach Virginia für den Bau eines der ersten Hochöfen in Nordamerika angeworben wurden. Für 1734 und 1738 sind Gruppen von 20 bzw. 43 Siegerländern aus Freudenberg und Umgebung nachgewiesen.

www.wikipedia.org / Nieuw Nederland

Die eigentliche Massenauswanderung, die in mehreren Wellen tausende Westfalen - rund 90.000 sind namentlich bekannt – nach Nordamerika brachte, setzte in Wittgenstein bereits 1796, im Münsterland um 1830/33 und in Ostwestfalen ab den 1840er Jahren ein. Heute hat jeder fünfte US-Amerikaner deutsche Vorfahren.

Von entscheidender Bedeutung für die Ortswahl war offenbar der briefliche Kontakt der Erstauswanderer mit Familienangehörigen und Bekannten in der Heimat, die in häufig Jahrzehnte lang bestehenden Kettenwanderungen nachzogen, was in vielen Fällen – bei gleicher Herkunft und Konfession – zur Konzentration von Westfalen in ländlichen homogenen Siedlungen führte. Die bereits bestehenden größeren Städte hingegen dienten einerseits als Zwischenstationen, in denen Geld für Kauf und Einrichtung einer Farm verdient wurde; andererseits nahmen sie einen Großteil der westfälischen Einzelauswanderer auf. Die deutschen Migranten, die ins koloniale Nordamerika kamen, übten eine Vielzahl von Berufen aus. Viele waren Handwerker oder Kaufleute, die meisten jedoch Bauern. Das Siedeln in den britischen Kolonien bedeutete für sie vor allem das Urbarmachen von Wäldern. Nachdem der Homestead Act von 1862 einen Anreiz zur Besiedelung der landwirtschaftlich bis dahin noch unerschlossenen Great Plains schuf, gingen viele Einwanderer in den Mittleren Westen, wo sie Mais anbauten, der in Deutschland in dieser Zeit noch wenig üblich war. Die meisten aus Deutschland eingewanderten Landwirte betrieben jedoch Milchwirtschaft und ließen sich bevorzugt in der Nähe größerer Städte nieder, in denen sie ihre Produkte absetzen konnten.

Die deutsche Bevölkerung in den Vereinigten Staaten im Jahre 1872.

www.wikipedia.org / Geschichte der Deutschen in den Vereinigten Staaten

Mittel- und Süd-Amerika

Nach der Ausrufung eines unabhängigen Kaiserreichs Brasilien 1822 setzte eine planmäßige Anwerbung auch westfälischer Bauern in die südbrasilianischen Bundesstaaten Rio Grande do Sul und Santa Catarina ein: Ab 1827 erfolgte der Zuzug von Familien aus Wittgenstein, ab 1860 aus dem Münsterland, 1868 bis 1872 aus dem Tecklenburger Land; insges. 1326 westfälische Einwanderer konnten bisher festgestellt werden.

www.wikipedia.org / Westfália im brasilianischen Bundesstaat Rio Grande do Sul

1834 schickte die Regierung von Jamaika einen Agenten nach Deutschland, der im Raum Brakel Höxter 263 Auswanderungswillige anwerben konnte.

www.wikipedia.org / Deutsche Siedlung Jamaika

Für Chile wurden zwischen 1851 und 1900 insgesamt 323 Westfalen - davon allein 134 aus Werl – gewonnen, die sich offenbar überwiegend als Bauern um den Llanquihue-See bzw. als Handwerker in den größeren Orten im Süden ansiedelten.

www.wikipedia.org / Deutsche Minderheit in Chile

Südost- und Osteuropa

Die wichtigsten Volksgruppen innerhalb der Rumäniendeutschen sind die Siebenbürger Sachsen und die Banater Schwaben, letztgenannte aus der übergeordneten Volksgruppe der Donauschwaben. Die Siebenbürger Sachsen siedelten sich im 12. Jahrhundert unter dem ungarischen König Géza II. in Siebenbürgen an. Die Herkunftsgebiete der Kolonisten lagen größtenteils im heutigen Luxemburg, Lothringen, dem Elsass und den Gebieten der damaligen Bistümer Köln, Trier und Lüttich (heute also zwischen Flandern, Wallonien, Luxemburg, Westerwald und Hunsrück bis hinein ins Westfälische). Die Siebenbürger Sachsen sind seit der Reformation durch Johannes Honterus überwiegend evangelisch. Die Banater Schwaben siedelten sich im 17. bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Laufe der vom Haus Habsburg organisierten Ansiedlung Schwabenzüge in den Ländern der Stephanskrone an, besonders in der Pannonischen Tiefebene entlang des Mittellaufs der Donau. Ihre Ursprünge lagen größtenteils in Lothringen, im Elsass, in der Pfalz, in Rhein- und Mainfranken, aber auch in Schwaben, Franken, Bayern und Hessen. Böhmen und Innerösterreich sowie die Österreichischen Niederlande (heute: Luxemburg und Belgien) hatten zeitweise einen größeren Anteil. Die Siedler waren vorwiegend katholischen Glaubens. Die Wiederbesiedlung des Banats durch Österreich ab 1718 nach 164- jähriger Türkenherrschaft vollzog sich in drei Perioden auch unter Beteiligung von Kolonisten aus dem kur-kölnischen Sauerland: Rund 120 Personen aus dem Raum Drolshagen-Wenden sind für die erste, über 1000 Sauerländer sowie 125 Siegerländer und 21 Wittgensteiner für die zweite Phase belegt. Mitte der 1780er Jahre wurden bei der Durchreise in Wien noch einmal 644 Auswanderer registriert, überwiegend mit der Herkunftsangabe „aus dem Sauerland“ und „aus dem Kölnischen“, d. h. aus dem kölnischen Sauerland; ihre Herkunfts- und Ansiedlungsorte bedürfen noch einer weiteren Klärung. Deutsche Siedler haben das Gebiet der heutigen Slowakei, welches damals Bestandteil des ungarischen Königreichs war, vom 12. bis zum 15. Jahrhundert, vor allem jedoch nach dem „Mongolensturm“ (1241) besiedelt. Ihren Höhepunkt erreichte die Besiedlung im 14. Jahrhundert. Im Gebiet von Pressburg (Bratislava) gab es wohl auch schon etwas früher Deutsche. Sie haben vor allem ältere damals ungarische Städte (v. a. Pressburg), Markt- und Bergbausiedlungen besiedelt und wurden meist von den ungarischen Königen als Spezialisten (Handwerker, Bergleute) angeworben. Ungefähr bis zum 15. Jahrhundert bestand die Führungsschicht aller damals nord-ungarischen Städte (heutige Slowakei) fast ausschließlich aus Deutschen.

Die drei Hauptsiedlungsgebiete waren die Pressburger Deutsch sprechenden Karpatendeutschen in Pressburg und Umgebung, die deutschen Sprachinseln der Zipser Sachsen in der Zips sowie das Hauerland. Hinzu kamen ab dem 18. Jahrhundert in den Gebieten der heutigen Karpato-Ukraine im Tereswa- bzw. Mokrjankatal sowie bei Munkatsch noch zwei weitere kleine deutsche Sprachinseln. Zusammen stellten die Bewohner der fünf Siedlungsgebiete aber keine homogene Gruppe dar, oftmals hatten sie nicht einmal Kenntnis voneinander.

Schon zu Zeiten der Kiewer Rus kamen Deutsche ins Gebiet des heutigen Russland, da Lübecker Kaufleute um 1200 ein Hansekontor in Nowgorod einrichteten. Diese Stadtrepublik stand in dieser Zeit für das souveräne Russland, während andere große russische Fürstentümer unter Herrschaft der Goldenen Horde standen. Iwan III. (Regentschaft 1462–1505) war der erste in einer ganzen Reihe von Zaren, die ausländische Fachleute anwarben. So kamen wiederum Deutsche nach Russland, von denen sich einige im neuen Machtzentrum Moskau dauerhaft niederließen. 1652 erging ein Erlass des Zaren Alexej Michajlowitsch (1645–1676), des Vaters von Peter I., über die Aussiedlung aller Westeuropäer hinter die Stadtgrenzen von Moskau, in die vormalige Ausländer-Vorstadt. Nunmehr bekam dieser Ort den Namen Neu-Deutsche oder Deutsche Vorstadt (Nemezkaja sloboda), da Russen alle aus Westeuropa stammenden und des Russischen nicht mächtigen Personen als „Nemcy“ (von dem Wort nemoj ‚stumm‘) bzw. als „Deutsche“ bezeichneten. Peter I. (1689–1725) ließ die neue Hauptstadt Sankt Petersburg erbauen (1703), wo von nun an die meisten der angeworbenen Fachleute lebten. Unter ihm gelangten viele Deutsch-Balten, die aus der Zeit des Deutschen Ordens hervorgegangen waren, unter russische Herrschaft.

www.wikipedia.org / Rumäniendeutsche

und www.wikipedia.org / Banatdeutsche

www.wikipedia.org / Karpatendeutsche

www.wikipedia.org / Russlanddeutsche

Auswanderungsgründe

Es waren in erster Linie die – hier nur verkürzt und unvollständig wiedergegebenen – wirtschaftlichen Bedingungen in der Heimat, die das Wanderungsgeschehen maßgeblich bestimmten:

  • die starke Verschuldung der Höfe durch grundherrliche Verpflichtungen sowie laufende und außerordentliche Steuern, etwa zur Deckung der Kriegskosten,
  • die spürbare Verschuldung der Bauern im Zuge der Bauernbefreiung der Stein-Hardenbergschen Reformen durch die Abtretungsmodalitäten, Geldzahlungen oder Landabtretungen an den Grundherrn,
  • die Nicht-Berücksichtigung der unterbäuerlichen Schichten bei den Gemeinheitsteilungen und der Wegfall ihrer traditionellen Viehfutter- und Brennholzgewinnug,
  • die Krise der landwirtschaftlichen Nebengewerbe Garnspinnerei und Leinenweberei durch die napoleonische Kontinentalsperre, die Einführung des mechanischen Webstuhls sowie die Verdrängung des Leinens durch die Baumwolle und der Mangel an industriellen Arbeitsplätzen zum Auffangen der aus der Landwirtschaft Ausscheidenden (gerade der Grad der Industrialisierung einer Region wirkte sich nachweislich auswanderungshemmend aus),
  • die für das dörfliche wie städtische Handwerk negativen Folgen durch die Verbreitung billiger maschinell hergestellter Produkte.

Der Mangel an Einkommens-Alternativen bei wachsendem Bevölkerungsdruck bewirkte insbesondere im nördlichen Ostwestfalen eine drastische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage vor allem der unterbäuerlichen Schichten und führte zu einer verstärkten Auswanderung in die Vereinigten Staaten (Abb. 1). Entscheidend ist in jedem Fall, dass die Zielgebiete, insbesondere die USA, den in materielle Not geratenen Westfalen wie das „gelobte Land“ erscheinen mussten. Sieht man von dem aus missionarischem Eifer ins Baltikum gezogenen westfälischen Landadel einmal ab, ist eine religiös motivierte Auswanderung in Westfalen allein als lokale Erscheinung zu beobachten: Ab 1805 wanderten Quäkerfamilien mit rd. 35 Personen aus dem Raum Vlotho und Bad Oeynhausen in die USA, 1881 zwölf Mitglieder der chiliastischen Auszugsgemeinde von Hemer in den Kaukasus. Auch die Zahl derer, die aus politischen Gründen in die USA auswanderten, ist mit ca. 20 Personen verschwindend gering. Unter den individuellen Auswanderungsgründen stehen an erster Stelle die Flucht vor Wehrdienst, Strafverfolgung oder Unterhaltsverpflichtungen, aber auch familiäre Gründe: Tod eines Elternteils und nachfolgende Wiederverheiratung sowie Geburt eines unehelichen Kindes, wodurch die Mütter ins soziale Abseits gerieten. Insgesamt konnten 108 000 westfälische Auswanderer namentlich ermittelt werden, ihre genaue Zahl dürfte aber aus den eingangs genannten Gründen beträchtlich höher, vermutlich bei 250 000 liegen. Durch detaillierte Lokalstudien ließen sich unsere Kenntnisse sicherlich weiter vertiefen.

LWL www.westfalen-regional.de / Auswanderungen / Erhard Treude 2017

Literatur

Wesfälische Auswanderer aus dem Regierungsbezirk Minden II. Heimliche Auswanderung. Westfälische Gesellschaft für Genealogie und Familienforschung / Beiträge zur westfälischen Familienforschung, Band 47/48. 1989 - 1990.

Bockhorst, Wolfgang und Friedrich Müller, Münster, Aschendorff Verlag, 1992. ISBN: 340205096X

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wiki/westfalenhoefe_auswanderer.txt · Zuletzt geändert: 2024/02/26 16:04 von michael

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